Einstmals war die islamische Schlachtung das Kernthema einer jeglichen Halal-Zertifizierung. Solange der Export von Fleisch im Vordergrund stand, hatten Halal-Zertifizierer vor allem mit diesem Thema zu tun. Das hat sich in den letzten Jahren grundlegend geändert. Heutzutage haben manche Zertifizierer (wie der Autor des Buches) keine 10% Fleisch zu zertifizieren.
Dennoch ist Fleisch eines der unter Muslimen am heißesten diskutierten und am kontroversesten beurteilten Themen. Einer der großen Zertifizierer in Deutschland zertifiziert überhaupt keine Schlachtung, wovor der Autor dieses Buches großen Respekt hat, was noch erläutert werden soll.
Die Vorstellung einer islamischen Schlachtung ist bei den meisten Menschen, die noch nie einen Schlachtbetrieb in Deutschland besucht haben und nur die Schlachtung aus einem orientalischen Land in verklärten Erzählungen kennen, geradezu romantisch. Das Kalb oder Schaf lebt glücklich und zufrieden auf der Weide, ernährt sich ausschließlich von frischem Grünzeug und erfreut sich seines Le-bens und seiner natürlichen Nahrung. Eines Tages wird entschieden, dass das Tier der höchsten Stufe seines Daseins zugeführt werden soll, dem “Opfer“. Es wird friedlich beiseite gezogen. Um seine Aufregung zu mildern, erhält das Tier Wasser. Jemand liest beruhigende, ja geradezu betäubende Verse aus dem Heilligen Qur’an, und ein Weiterer streichelt das Tier dabei ruhig, dass es völlig entspannt ist. Das Tier wird vorsichtig in Gebetsrichtung (Qibla) ausgerichtet. Weit und breit gibt es nur Sonnenschein, frische Luft und keine An-zeichen für Opfertod. Dann setzt der geübte Schlachter mit einem einzigen scharfen Schnitt völlig unerwartet den Opferschnitt an und das Tier blutet in aller Ruhe innerhalb weniger Minuten aus.
So oder so ähnlich klingen die Geschichten, die Kindern erläutert werden. Es ist auch gut, dass Kinder es in dieser Art lernen, denn so ist tatsächlich das Ideal! Aber dieses Ideal gibt es – wenn überhaupt – nur noch in Dörfern, die kein Mensch erreichen kann. Mit der Lebenswirklichkeit eines europäischen Schlachtbetriebes hat das absolut nichts zu tun! Diese Wirklichkeit ist in jeder Hinsicht grausam, und es ist berechtigt danach zu fragen, in wie weit die Schlachtung im industriellen Rahmen überhaupt islamisch sein kann.
Bei der industriellen Schlachtung wird das Tier zunächst auf viel zu engem Raum großgezogen und mit “Spezialfutter“ gemästet, so dass es möglichst schnell ein Gewicht erreicht, mit dem es verkaufbar ist. Gewinnmaximierung ist die Devise. Dieses Futter kann auch tierischer Herkunft sein. Es ist kein böser Scherz zu behaupten, dass manches Rind mit Schweinefleischbestandteilen gemästet wurde. Zwar ist das in Deutschland seit dem Rinderwahnsinn nicht mehr erlaubt, aber viele Tiere, die in Deutschland geschlachtet werden, kommen gar nicht aus Deutschland.
Das so unfreiwillig indirekt zum Fleischfresser “mutierte“ Wesen kommt dann in einen Transporter, in einen noch viel engeren Raum als während der Mästung, wird zuweilen durch halb Europa transportiert, um am Ende der Reise völlig erledigt an der Rampe einer industriellen Schlachtanlage aussteigen zu müssen. Es folgt die gedrängte Zuführung in den Schlachtraum. Noch bevor das Großtier durch einen Bolzenschuss betäubt wird, sieht bzw. riecht es bereits den Tod. Unmittelbar nach dem Bolzenschuss hat ein Mitarbeiter nur wenige Sekunden, um das Tier an einen Haken zu befestigen, der es hochzieht und am Band hängend zum Schlachter führt. Der hat – ab dem Moment des Bolzenschusses – 60 Sekunden Zeit, um den tödlichen Schnitt anzubringen, da sonst das Tier anfängt zu zappeln und es lebensgefährlich für ihn werden könnte. Verzögert ein ungeübter “Aufhänger“ das Anbringen der Hakenkette, so kann es bereits am Boden zu einem Drama kommen. Denn wenn ein Tier von 500 kg anfängt unkontrolliert zu zucken, dann wird es nahezu unmöglich, den Haken anzubringen, und dann kann das Tier verenden, noch bevor der Todesschnitt angebracht wurde. Der Schlachter schlachtet im Rhythmus von wenigen Minuten.
Bei Geflügel geht es ähnlich brutal zu. Hier werden die Tiere noch im lebenden und bewussten Zustand kopfüber an einen Haken gehängt und zappeln eine Weile und versuchen sich zu befreien, bevor ihr Kopf in ein Elektrobad eingetaucht wird, dass sie betäubt. Anschließend erfolgt der Schnitt im Wenige-Sekunden-Rhythmus.
Um es zusammenzufassen: Das was in einer industriellen Schlachterei stattfindet, hat mehr mit einem Massaker zu tun, als mit einer islamischen Schlachtung. Und das was zuvor mit dem Tier geschah, ist auch nicht dazu angetan, den Begriff “halal“ im Rahmen von Fleisch zu fördern.
Niemand verlangt von einem Muslim, dass er Vegetarier wird! Der Mensch ist ein Lebewesen, das unter bestimmten Umständen auch Fleisch speisen kann und darf. Aber um genau jene Bedingungen geht es hier, wobei unterschiedliche Aspekte zu berücksichtigen sind. Zum einen steht da der Aspekt der Tötung eines Lebewesens im Vordergrund und zum anderen die Frage nach der Menge. Beide Fragen hängen selbstredend direkt miteinander zusammen.
Die Tötung eines Lebewesens ist eine grundsätzlich abzulehnende Angelegenheit! Die Natur des gesunden Menschen sträubt sich gegen das Töten. Und so soll nur dann getötet werden, wenn eine besondere Situation es erforderlich macht. Diese besondere Situation ist das Opfertier. Es wird tatsächlich “geopfert“ im Namen Gottes, um das Fleisch z.B. auch Bedürftigen zukommen zu lassen. Einst-mals war es in den muslimischen Ländern Sitte, dass von jedem geschlachteten Tier – selbst wenn man es “nur“ für die eigene Familie geschlachtet hat – ein Teil an Nachbarn und ein anderer Teil an Bedürftige verteilt wurde. Das Opfertier war etwas ganz besonderes. Vergleichbar dem einstmals in Deutschland gängigen Sonntagsbraten war es eine Art Höhepunkt der Woche, in der ansonsten kaum Fleisch konsumiert wurde.
Sowohl in Deutschland als auch unter Muslimen in vielen Teilen der Welt hat sich die Lage in wenigen Jahrzehnten dramatisch verändert. Was einstmals Höhepunkt der Woche war, ist inzwischen zur Gewohnheit bei fast jeder Mahlzeit verkommen. Aus dem wenigen Fleischkonsum in der Woche ist dreimal am Tag Fleisch geworden. Dieser übertriebene Fleischkonsum macht eine industrielle “Herstellung“ und “Produktion“ notwendig, die weder für die Umwelt noch für die konsumierenden Menschen gesund ist. „Macht nicht Eure Mägen zu Friedhöfen der Tiere“, ist eine der bekanntesten authentischen Überlieferungen des Islam zu diesem Thema. Bedauerlicherweise halten sich homöopathisch wenige Muslime an diesen Grundsatz.
Gänzlich zur Katastrophe wird der Grundsatz im Monat Ramadan. Eigentlich sollte es sich ja um einen “Fastenmonat“ handeln. Fasten, echtes Fasten, würde bedeuten, dass man in diesem Monat insgesamt weniger zu sich nimmt, als in anderen Monaten. Die Realität sieht bedauerlicherweise anders aus. In manchen muslimischen Ländern wird der ohnehin viel zu hohe Fleischkonsum in jenem Monat verdoppelt.
So liegt das Problem weniger in der Produktion als vielmehr bei dem Verbraucher, der natürlich jene Massenware auch möglichst “billig“ haben möchte. Ein sehr lobenswertes Bio-Halal-Projekt in Deutschland, das qualitativ hochwertiges Fleisch zu einem entsprechenden Qualitätspreis angeboten hat, konnte sich bisher nicht durchsetzen, da zu wenige Kunden bereit sind, einen höheren Preis für solch eine Qualitätsware zu zahlen.
Aus Sicht des Halal-Zertifizierers stellt sich die folgende Frage: Ein sein ganzes Leben lang unter untierischen Bedingungen lebendes und gefüttertes Tier wird am Ende in Form eines Massakers umgebracht und soll “halal“ sein, wenn bestimmte Schlachtbedingungen erfüllt sind. Kann das wirklich sein? Ein europäischer muslimischer Intellektueller hat einstmals die Frage aufgeworfen, warum ein Tier, das sein Leben lang “natürlich“ auf einer Weide lebt, natürlich ernährt wird und alle seiner Natur entsprechenden Gegebenheiten erfüllt werden, nicht halal ist, weil es von einem Nichtmuslim geschlachtet wird, während das Tier, dass sein Leben lang in einer Art Käfig gelebt hat, künstlich ernährt wurde, nur deshalb halal wird, weil es von einem Muslim geschlachtet wird. Die Frage spitzt die Problematik des Fleischkonsums auf die Frage der Schlachtung zu und insgesamt müssen sich Muslime weltweit Gedanken darüber machen, wie sehr ihr übertriebener Fleischkonsum schlichtweg ungesund in so vielen Bereichen ist.
Es mag seltsam anmuten, dass ausgerechnet ein Halal-Zertifizierer solche Zeilen schreibt, aber es ist die Verpflichtung eines jeden Muslims, der einen extremen Misstand feststellt, nach seinen Möglichkeiten dazu beizutragen, diesen Misstand zu vermindern. Der Fleischkonsum von uns Muslimen ist das Problem, und wir müssen zurück zum Aspekt der Berücksichtigung der spirituellen Aspekte der Speise! Würden Muslime den spirituellen Aspekten mehr Gewicht verleihen, dann würden sie weniger Opferfleisch “opfern“ und sowohl sich selbst gesünder ernähren, als auch die Tiere, die sie opfern. Die Würde der Tiere als Geschöpf könnte besser gewahrt werden. Und würden die spirituellen Aspekte mitberücksichtigt, so könnte die Frage des Intellektuellen so nicht gestellt werden, denn die Voraussetzung, dass das Tier im Namen Gottes geschlachtet werden muss unter Einhaltung bestimmter Riten wäre unzweifelhaft.
Nach dieser Einleitung fällt es schwer, den Übergang zum Halal-Schlachten zu finden. Aber neben all den Widrigkeiten, Problemen der Aufzucht solcher Tiere und der Massentierhaltung, sowie der industriellen Produktion darf ein Halal-Zertifizierer dennoch nicht “päpstlicher sein als der Papst“ bzw. “imamischer sein als der Imam“, um es ins Muslimische zu übertragen. Und das Islamische Recht sieht zwar in sehr vielen Lebensbereichen ein Ideal vor, aber das Ideal ist etwas Anzustrebendes, während auch von diesem Ideal entfernte Stufen durchaus erlaubt, also “halal“ sein können. Insofern können Halal-Zertifizierer in Bezug auf Fleisch das zertifizieren, was die Mindestvoraussetzungen erfüllt, und allein dabei gibt es hinreichend Diskussionsstoff.
Ihr Text hat mir vieles klar gemacht. Ich weiß nun, dass halal nicht gleich wirklich halal ist. Außerdem wusste ich zuvor noch nicht, dass Massentierhaltung und generell schlechte Bedingungen erlaubt sind. Das weiß ich aber jetzt! Vielleicht sollte man, wenn man einfach wirklich nicht auf Fleisch verzichten kann, Bio-Fleisch essen und etwas mehr Geld zahlen. Wer darauf verzichten will, mehr Geld zu zahlen, sollte es gleich lassen und Vegetarier oder Veganer werden. Vielen Dank dafür, dass Sie mir die Augen geöffnet haben!